Rechtsstaat

Gedanken der Berliner Strafverteidiger*innen Vereinigung zum Jahrestag des Anschlags von Hanau in schwierigen Zeiten

Am 19. Februar 2025 jährt sich der rechtsextrem motivierte Anschlag von Hanau zum fünften Mal. Neun Menschen wurden ermordet: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov – Ihre Namen dürfen nicht vergessen werden! Abgesehen davon, dass die Hintergründe der Tat bis heute nicht aufgeklärt wurden, sind die Wunden, die dieser Terrorakt in die betroffenen Familien, in die migrantische Community und in unsere Gesellschaft gerissen hat, nicht verheilt. Sie mahnen uns, als Rechtsstaat wachsam zu bleiben gegenüber der steten Gefahr extremistischer Gewalt, ebenso wie gegenüber der schleichenden Normalisierung von Hass und Ausgrenzung in der gesellschaftlichen Debatte.

Das heutige Gedenken reiht sich dabei selbstverständlich ein, in das Mitgefühl mit allen Opfern von Anschlägen und Gewalttaten – unabhängig von ihren Hintergründen oder den Motiven der Täter. Jede Form der Gewalt, ob aus politischer Radikalisierung, gesellschaftlicher Spaltung oder individueller Verzweiflung heraus, stellt eine große Herausforderung für unseren Rechtsstaat dar. Umso wichtiger ist es, in eine zwangsweise emotionalisierte Debatte wissenschaftlich fundierte Fakten einzubringen.

So zeigt die gestern veröffentlichte IFO-Studie: Eine steigende Zahl von Ausländer*innen führt nicht zu einer höheren Kriminalitätsrate. Die Auswertung der kriminalstatistischen Daten stellt fest, dass die Kriminalitätsentwicklung vorrangig durch sozioökonomische Faktoren beeinflusst wird – insbesondere durch Armut, mangelhaftes Bildungsniveau und fehlende gesellschaftliche Integration. Die Studie trennt dabei die Korrelationen von Kausalzusammenhängen. Diese wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse stehen also im Widerspruch zu populistischen Behauptungen, die Migration immer wieder pauschal mit Kriminalität in Verbindung bringen. Besonders relevant erscheint uns, dass Regionen mit einem höheren Zuzug von geflüchteten Menschen eben keine überproportionale Zunahme an Straftaten verzeichnen. Wer das Gegenteil behauptet, verzerrt die Realität oder instrumentalisiert Statistiken für politische Zwecke. Ein ehrlicher rechtsstaatlicher Diskurs muss sich diesen Verzerrungen widersetzen.

Die Erinnerung an Hanau ist uns gleichzeitig Mahnung: Wir dürfen nicht abstumpfen gegenüber Rassismus und demokratiefeindlichen Tendenzen. Rechtsstaatlichkeit bedeutet für uns, sich nicht von Angst und Ressentiments leiten zu lassen, sondern empathisch, verantwortlich, gerecht und mit einem klaren Bekenntnis zur Menschenwürde zu handeln.

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Aus aktuellem Anlass: Stellungnahme der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen e.V. zur Unschuldsvermutung

Die Unschuldsvermutung ist aktuell wieder in der Diskussion. Diese Diskussion zeigt, wie schnell grundlegende Prinzipien unseres Zusammenlebens durch emotionale oder politische Dynamiken untergraben werden können. Sie zeigt, dass und wie Einseitigkeit „der guten Sache wegen“ in die Sackgasse führt. Eine solche Entwicklung gefährdet nicht nur Einzelpersonen, auch nicht „nur“ das Strafverfahren, sondern die Grundfesten unserer Demokratie. Die Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen e.V. setzt sich daher entschieden für den Schutz der Unschuldsvermutung ein. Wir fordern, diese nicht nur in Strafverfahren wieder verstärkt zu achten, sondern sie generell in der Gesellschaft als wesentliches und moralisches Ordnungsprinzip unseres Zusammenlebens anzuerkennen.

Was ist die Unschuldsvermutung?

Ganz allgemein gesagt verlangt die Unschuldsvermutung zunächst nur etwas sehr Schlichtes: Vorwürfe nicht einfach zu glauben, sondern immer (auch) zu bedenken, dass die beschuldigte Person unschuldig sein kann und sie daher bis zum Vorliegen von Beweisen des Gegenteils entsprechend zu behandeln. Sie fordert daher zu Ermittlungen ebenso auf wie dazu, sich über das Ergebnis dieser Ermittlungen ein Bild zu machen. Sie fordert zu prüfen, ob sich die Ermittlungsergebnisse auch durch ein unschuldiges Verhalten erklären lassen können.

Ist die Unschuldsvermutung nur ein rechtliches und kein moralisches Prinzip, das außerhalb der Gerichte oder des Strafverfahrens nicht gilt?

Dazu kommt es zunächst darauf an, wie „Moral“ definiert wird. Nach einer verbreiteten Definition wird als Moral der Teil der Konventionen und Regeln bezeichnet, dessen Befolgung im zwischenmenschlichen Miteinander als „richtig“ und dessen Nichtbefolgung als „falsch“ bewertet wird. Sollen Behauptungen, die Relevanz im zwischenmenschlichen Miteinander haben, überprüft werden, bevor daran Konsequenzen geknüpft werden? Wir halten das als Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, aber auch als Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft, für unbedingt richtig. Eine Gesellschaft, in der Vorwürfe ungeprüft zu Konsequenzen führen sollen, halten wir dagegen nicht für erstrebenswert. Wir gehen davon aus, dass dies ein wesentlicher Teil unserer Gesellschaft ebenso sieht. Insofern handelt es sich also nicht nur um ein rechtliches, sondern auch um ein moralisches Prinzip, das den Diskurs in unserer Gesellschaft grundlegend bestimmen sollte.

Gefahren einer Kultur der Nichtüberprüfung

Die Unschuldsvermutung ist zu allen Zeiten gerade bei denen unbeliebt gewesen, die in die ein oder andere Richtung endlich einmal „durchgreifen“ wollten. Immer schon gab es Stimmen, denen es zu mühsam war, Beweise ergebnisoffen zu sammeln und zu würdigen. Nicht selten im Sinne einer aus Sicht der Handelnden „guten Sache“. Personen werden dann bereits durch bloße Anschuldigungen beruflich und gesellschaftlich ruiniert, bevor eine Klärung erfolgt. Wenn bloße Vorwürfe anstelle von Beweisen über Schuld oder Unschuld entscheiden, verlieren der Rechtsstaat, die Gesellschaft und ihre Organisationen ihre Integrität. Auch dies belegt, dass es sich bei der Unschuldsvermutung  nicht nur um ein rechtliches, sondern um ein moralisches Prinzip handelt.

Nicht erst in der aktuellen Debatte fällt auf, dass die Unschuldsvermutung zunehmend einer „Kultur der Nichtüberprüfung“ weicht. Natürlich kann sich eine Organisation, ein Verband oder eine Partei sich für ihre inneren Angelegenheiten dafür entscheiden, ihre Handlungen von unüberprüften Vorwürfen leiten zu lassen. Ihr sollte dann klar sein, dass sie sich damit bei denjenigen einreiht, die Glauben über Wissen stellen, die Gerüchte wie Tatsachen behandeln, die das eigene Gefühl als Beweis ausreichen lassen.

Handlungen auf unüberprüfter Grundlage schaden auch tatsächlichen Opfern

Wenn in der aktuellen Debatte etwa Aussagen getroffen werden wie „was es aber bedeutet, in einer feministischen Partei zu sein, ist, dass Betroffenen geglaubt wird“, dann könnten diese die vorstehend beschriebene, bedenkliche Entwicklung nicht besser illustrieren. Wir bezweifeln, dass der Feminismus verlangt, andere auf Basis von unüberprüften Behauptungen zu sanktionieren. Vielmehr schwächt eine unkritische Übernahme von Anschuldigungen auch die Glaubwürdigkeit wirklicher Opfer in Aussage-gegen-Aussage-Situationen. Dies untergräbt deren Anliegen und erschwert es, wahre Taten aufzuklären.

Unbestreitbar muss es für Betroffene die Möglichkeit geben, Unterstützung zu erhalten. Dass der Ausgleich der beiden gleichermaßen moralischen Prinzipien der Betroffenenunterstützung und der Unschuldsvermutung nicht einfach ist, ist ebenfalls eindeutig. Die Geschichte zeigt, dass es keine sinnvolle Lösung sein kann, nur einer Seite zu glauben, auch dann nicht, wenn man diese Einseitigkeit als „Betroffenengerechtigkeit“ verkauft.

Berlin, den 11. Februar 2025 Der Vorstand des Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen e.V.

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