Der zentralste Paragraf des Sexualstrafrechts und durch die Reform im Jahre 2016 am deutlichsten veränderte und verschärfte ist wohl § 177 StGB.
Die alte Fassung des § 177 Abs. 1 StGB lautete noch wie folgt:
Wer eine andere Person
1. mit Gewalt,
2. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder
3. unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist,
nötigt, sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.
Nach der Reform des Sexualstrafrechts wird nunmehr gem. § 177 Abs. 1 StGB (Sexueller Übergriff; Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) derjenige mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft,
wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt.
Der entscheidende Unterschied im Vergleich zum alten Recht besteht also darin, dass die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung bereits dann strafbar ist, wenn der entgegenstehende Wille erkennbar ist, und nicht erst dann, wenn zusätzlich eine Drohung ausgesprochen, Gewalt angewendet oder eine schutzlose Lage ausgenutzt wird.
Damit wird eine bisher existente Strafbarkeitslücke für die Fälle geschlossen, in denen das Opfer außerstande ist, sich physisch gegen den Übergriff des Täters zur Wehr zu setzen, gleichzeitig jedoch nicht widerstandsunfähig ist, zum Beispiel wenn das Opfer aus Furcht keinen Widerstand leistet. Das Opfer muss deutlich machen, dass es die Vornahme der sexuellen Handlungen nicht will.
Erkennbarkeit des entgegenstehenden Willens
Der entgegenstehende Wille muss allerdings auch erkennbar sen. Dies ist aus der Sicht eines objektiven Dritten zu beurteilen. Um den entgegenstehenden Willen erkennbar zu machen, kann eine ausdrückliche, d.h. verbale Erklärung (wie z.B. „Nein“) erfolgen. Es genügt aber auch ein konkludentes Verhalten (wie z.B. Weinen oder Abwehren der sexuellen Handlung) zum Tatzeitpunkt, wenn hierdurch aus der Sicht eines objektiven Dritten die Abneigung des Opfers zum Ausdruck kommt.
Keine Erkennbarkeit des entgegenstehenden Willens
Ist der entgegenstehende Wille des Opfers hingegen nicht erkennbar, macht sich der Täter nur strafbar, solange die in § 177 Abs. 2 StGB genannten Umstände vorliegen. Es handelt sich dabei um Konstellationen, in denen dem Opfer das Erklären eines entgegenstehenden Willens entweder nicht zumutbar ist, so dass selbst eine geäußerte Zustimmung nicht tragfähig wäre, oder ihm das Erklären eines entgegenstehenden Willens objektiv nicht möglich ist. § 177 Abs. 2 StGB lautet:
Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wenn
1. der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern,
➔ Das Opfer muss hierbei absolut unfähig sein, einen Willen zu bilden oder zu äußern. Dies ist gegeben, wenn das Bewusstsein vollkommen ausgeschaltet ist (z.B. Koma, Vollnarkose, natürlicher Schlaf) oder Störungen des Bewusstseins wie sehr starke Verwirrtheit und Delirium vorliegen. Dabei ist es unerheblich, ob die absolute Unfähigkeit zur Willensbildung oder -äußerung auf krankhaften Zuständen (z.B. Schlaganfall) oder auf einer Verursachung durch das Opfer selbst, den Täter oder Dritte, etwa durch psychoaktive Substanzen wie Alkohol, andere Drogen oder K.O.- Tropfen beruht.
2. der Täter ausnutzt, dass die Person auf Grund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert,
➔ Das Opfer muss hierbei aufgrund eines Zustands stark eingeschränkt sein, einen Willen zu bilden oder zu äußern. Hierunter fallen beispielsweise Demenz, Bewusstseinsstörungen und kognitive Störungen wegen Alkohol, Drogen, Medikamenten.
Eine Besonderheit bei Nr. 2 besteht darin, dass die Strafbarkeit entfällt, wenn sich der Täter der Zustimmung der anderen Person versichert. Es ist erforderlich, dass ein natürlicher Wille der anderen Person klar und deutlichen nach außen sichtbar wurde. Hier kommt das in anderen Ländern (bspw. Spanien und Schweden) bereits implementierte „Nur-Ja-Heißt-Ja“-Modell zum Ausdruck. Hiernach müssen alle beteiligten Personen sexuellen Handlungen ausdrücklich zustimmen. Es soll ein klarer Konsensgrundsatz verankert werden. In Deutschland hingegen gilt nach wie vor das „Nein-heißt-Nein“-Modell, wonach ein sexueller Übergriff dann strafbar ist, sobald die betroffene Person ihr „Nein“ zum Ausdruck bringt.
3. der Täter ein Überraschungsmoment ausnutzt,
➔ Hier sollen Situationen erfasst werden, in denen das Opfer nicht mit einer sexuellen Handlung gerechnet und damit also auch (noch) keinen Willen dazu gebildet hat. Hierdurch soll das umgangssprachlich sog. „Grapschen“ erfasst werden. Zudem sind auch Fälle erfasst, in denen der Täter eine andere als die vorher vereinbarte sexuelle Handlung vornimmt, oder wenn der Sexualpartner überraschend ausgetauscht wird.
4. der Täter eine Lage ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel droht, oder
➔ Durch § 177 Abs. 2 Nr. 4 StGB sollen insbesondere die sog. „Klima der Gewalt“-Fälle erfasst werden. Die „Klima der Gewalt“-Fälle zeichnen sich dadurch aus, dass die Beteiligten eine persönliche Beziehung oder ein familiären Zusammenleben verband oder verbindet, die durch Gewalt eines Partners oder Familienmitglieds geprägt waren. Diese Person oder dieses Familienmitglied hatten in der Vergangenheit Anordnungen i.d.R. mit Gewalt durchgesetzt. Somit mussten diese irgendwann nicht mehr ausdrücklich oder konkludent drohen, um den eigenen Willen durchzusetzen.
➔ Darüber hinaus sind aber auch Situationen erfasst, in denen dem Opfer bei Widerstand folgendes empfindliches Übel drohen könnte: Verlust der Arbeitsstelle oder Verschlechterung von Arbeitsbedingungen, negative schulische oder berufliche Bewertungen, Verschlechterung ambulanter Pflege usw. Der Täter nutzt diese Lage aus, wenn das Opfer es ernstlich für möglich hält, dass bei Weigerung das empfindliche Übel eintritt.
5. der Täter die Person zur Vornahme oder Duldung der sexuellen Handlung durch Drohung mit einem empfindlichen Übel genötigt hat.
➔ Der Unterschied zur obigen Tatvariante (Nr. 4) besteht darin, dass der Täter das Opfer mit der Herbeiführung eines empfindlichen Übels tatsächlich bedrohen muss.
Die Grundtatbestände des § 177 Abs. 1 und Abs. 2 StGB sind nach § 177 Abs. 3 StGB auch im Versuch strafbar.
Die weiteren Absätze des § 177 StGB:
In § 177 Abs. 4 StGB ist eine Qualifikation für § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB vorgesehen:
Es ist auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu erkennen, wenn die Unfähigkeit, einen Willen zu bilden oder zu äußern, auf einer Krankheit oder Behinderung des Opfers beruht.
§ 177 Abs. 5 StGB, der eine Qualifikation für beide Grundtatbestände (§ 177 Abs. 1 und Abs. 2 StGB) darstellt, ist dann verwirklicht, wenn der Täter
1. gegenüber dem Opfer Gewalt anwendet,
2. dem Opfer mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben droht oder
3. eine Lage ausnutzt, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist.
In § 177 Abs. 6 StGB sind zwei besonders schwere Fälle normiert:
Der Täter verwirklicht das erste Regelbeispiel des § 177 Abs. 6 Nr. 1 StGB,
wenn er mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder vollziehen lässt oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung). Die Verwirklichung einer Vergewaltigung hängt somit nicht mehr davon ab, ob der Täter das Opfer durch Gewalt, durch Drohung oder durch das Ausnutzen einer schutzlosen Lage nötigt.
Das zweite Regelbeispiel des § 177 Abs. 6 Nr. 2 StGB liegt vor, wenn die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird.
In § 177 Abs. 7 StGB ist eine weitere Qualifikation vorgesehen. Diese ist verwirklicht, wenn der Täter
1. eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,
2. sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden, oder
3. das Opfer in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.
Eine weitere Qualifikation wird im § 177 Abs. 8 StGB erfasst. Hiernach ist auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter
1. bei der Tat eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet oder
2. das Opfer
a) bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder
b) durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.