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Seifert: Forensische Psychiatrie

Regelmäßige Leser des Fachblogs haben sicherlich festgestellt, dass wir besonders gern Kommentarliteratur rezensieren und darüber berichten, was sich zwischen der 57. und der 58. Auflage geändert hat. Ab und zu bringt der freundliche DHL-Bote jedoch eine Erstauflage ins Büro. Und wenn dann die Pausenglocke läutet, ist Zeit für ganz Neues. So auch hier:

Der Autor, Dieter Seifert, Jahrgang 1959, ist studierter Humanmediziner und Ärztlicher Direktor der Alexianer Christophorus Klinik in Münster (Habilitation zu Gefährlichkeitsprognosen von Patienten des psychiatrischen Maßregelvollzugs), lehrt forensische Psychiatrie sowohl an medizinischen als auch juristischen Fakultäten und ist zudem seit 30 Jahren als Gerichtsgutachter tätig. Sagen wir es so: Seifert braucht für dieses Werk keinen Ghostwriter.

Das Buch hat eine gut nachvollziehbare Gliederung: Der Autor widmet sich zunächst der psychiatrischen Krankheitslehre und erläutert dann verschiedene Krankheitsbildern an, die gelungen nach den Eingangsmerkmalen des § 20 StGB – der Zentralnorm für Schuldunfähigkeit aufgrund seelischer Störungen – geordnet sind. Im Anschluss werden Fragen des gerichtlichen Sachverständigengutachtens, des Maßregelvollzugs und der Beurteilung von Legalprognosen erörtert.

Immer wieder gelingt es ihm dabei, einen Bogen zu spannen von der medizinisch-psychiarischen Fachmaterie zum juristischen Anwendungsbereich, was es nicht nur für Studierende und Praktiker der forensischen Psychologie, sondern auch Studierende und Praktiker der Juristerei äußerst empfehlenswert macht.

Der Text ist angenehm lesbar, was auch an den immer wieder eingestreuten reale Fallbeispielen und solchen aus Filmen und Romanen dient. Eine gute Idee!

Etwas stärker ins Detail hätte der Autor allenfalls hinsichtlich der Differenzierung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die in der forensischen Psychiatrie sonst nach meiner Wahrnehmung eine große Rolle spielen. Auch ein Exkurs in die Strafrechtssysteme anderer Staaten und deren Beurteilung psychischer Krankheiten in Bezug auf persönlich vorwerfbare Schuld. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein äußerst gelungenes Fachbuch, welches sich mit der Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Strafrecht befasst.

Insgesamt zeigt das Werk jedoch auf eine umfangreiche, aber nicht überfordernde Art die Grundlagen vor psychischer Erkrankungen im juristischen und kriminologischen Kontext auf. Dabei wird das Buch ohne Zweifel seinem Anspruch gerecht, die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Bereich der forensischen Psychiatrie zu fördern. Wir empfehlen es gern.

Seifert, Dieter: Forensische Psychiatrie, Beck, München 2024, 69 Euro.

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Sicherheitslücke bei TELIO – mehr als 500.000 Gespräche betroffen

Die Sicherheitsforscherin Lilith Wittmann hat eine Sicherheitslücke bei TELIO aufgedeckt. Die ZEIT- Online konnte die Daten sichten und berichtete am 26.6.2024 darüber. Demnach waren Daten von mehr als 14.000 Inhaftierten im Internet frei zugänglich.

Details dazu gibt es auf der Medium-Seite von Lilith Wittmann [externer Link].

Darunter seien der volle Name und die Haftanstalt, vermutlich über Jahre, offen im Internet zu finden. Aus den Daten von mehr als 500.000 Gesprächen gehe sowohl hervor, wer wann mit wem telefoniert hat, als auch das „Verhältnis“ des Inhaftierten zum Gesprächspartner (etwa: Mutter, Freund, Anwalt, Therapeut). Zudem seien Gespräche abgehört und aufgezeichnet worden. Die Mitschnitte fänden sich ebenfalls im Internet.

Die Betreiberin von TELIO, die Gerdes Communications GmbH, hat die Sicherheitslücke gegenüber ZEIT-Online eingeräumt.

Dass die für die Justizvollzugsanstalten zuständigen Justizbehörden offenbar das Telekommunikationssystem TELIO und die dazugehörige Datenverarbeitung nicht auf Sicherheit geprüft haben, ist erschütternd.

Erschütternd ist gleichermaßen, dass Gerdes Communication laut ZEIT-Online die betroffenen Justizvollzugsanstalten und Behörden nur zögerlich informiert.

Dieses, von uns datenschutzwidrig eingeordnete, Verhalten der Gerdes Communications GmbH wird sicherlich nicht unerheblich durch die Quasimonopolstellung von TELIO ermöglicht. Der Strafvollzug ist eine sog. Kritische Infrastruktur (KRITIS). Damit einhergehend sind besondere Regelungen und Verpflichtungen qua Gesetz, nicht nur bezüglich der Energieversorgung bei einem Blackout, sondern gerade auch bezüglich der IT-Sicherheit und des Datenschutzes der Betroffenen. Die Daten sind sensibel. Verstöße gegen den Datenschutz sind schwere Eingriffe in die Grundrechte der Betroffenen.

Die schweren Grundrechtseingriffe durch die Verfügbarkeit der Daten im Internet gehen bei Inhaftierten und bei im Maßregelvollzug Untergebrachten mit einer ins persönliche Umfeld reichenden Stigmatisierung einher. Im frei zugänglichen TELIO-Datenmeer versinkt dabei die Unschuldsvermutung aller betroffenen Untersuchungshäftlinge aus Art 6 Abs. 2 EMRK gleich mit.

Uns Strafverteidiger*innen betreffend wird der Schutz des Mandatsverhältnisses verletzt und unsere Berufsgeheimnispflicht ad absurdum geführt. Dasselbe gilt für Ärzt*innen und Therapeut*innen.

Ganz gleich, ob die Sicherheitslücke durch Cyberkriminelle oder Geheimdienste ausgenutzt wurde oder nicht, muss dem unverantwortlichen Verhalten von Gerdes Communications GmbH als Betreiberin von TELIO im Sinne unserer Mandant*innen, deren Familien, deren Therapeut*innen und deren Rechtsanwält*innen ein Ende gesetzt werden. Laut Lilith Wittmann sind Berliner Anstalten wohl nicht betroffen.

Gleichwohl fordern wir im Sinne unserer Mandant*innen und unserer Mitglieder die Gerdes Communications GmbH dazu auf, der Datenschutzbeauftragten des Landes Berlin alle relevanten Informationen zur Verfügung zu stellen, damit diese selbst eine Überprüfung durchführen kann. Außerdem fordern wir die Senatsverwaltung für Justiz auf, eine datenschutzkonforme und sichere Telekommunikation der Inhaftierten und im Maßregelvollzug Untergebrachten zu ermöglichen und sicherzustellen.

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Protest gegen Festnahme eines Rechtsanwalts bei der Besetzung der HU

Am 23. Mai 2024 wurde das 75-jährige Bestehen des Grundgesetzes gefeiert. Leider zeigte sich gerade an diesem Tag, dass die Einhaltung von Grundrechten durch die Polizei auch 75 Jahre nach ihrem Inkrafttreten nicht als selbstverständlicher Mindeststandard gewährleistet ist. Die Festnahme eines Rechtsanwalts während der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit stellt einen schweren Grundrechtseingriff dar, der generell zu unterbleiben hat. Es darf nicht sein, dass die Staatsspitze die Grundrechte feiert, während wenige Kilometer entfernt die staatlichen Akteure, die mit den Bürgerinnen und Bürgern in direkten Kontakt kommen, eben diese Grundrechte außer Acht lassen. Nach den uns vorliegenden Informationen hat sich Folgendes ereignet: Am vergangenen Mittwoch und Donnerstag besetzten Studierende das Sozialwissenschaftliche Institut der Humboldt-Universität (HU). Ein anwaltlicher Kollege und Mitglied der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen fungierte an beiden Tagen als Rechtsbeistand der besetzenden Studierenden. Das Recht auf anwaltlichen Beistand besteht auch für die Protestierenden uneingeschränkt. Nach den uns bekannten Informationen war unser Kollege während der Gespräche mit dem Präsidium der HU anwesend und zudem auch durch dieses zugelassen. In Absprache mit dem Präsidium der HU sollte den Studierenden am Donnerstag die Gelegenheit gegeben werden, das Gebäude gemeinsam mit den Professor*innen geordnet und ohne polizeiliches Einschreiten zu verlassen. Trotz zunächst gewährter Zusage hinsichtlich des geplanten Ablaufs seitens der Polizeilichen Leitung wurde das Gebäude schließlich geräumt und sämtliche Personen einer Identitätsfeststellung unterzogen. Aus verschiedenen Quellen ist zu entnehmen, so berichten es etwa „Der Tagesspiegel“ und „Die Zeit“, dass die Anweisung der Räumung ausdrücklich von dem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner und dem Senat erteilt worden sie soll. Auch dies wäre im Übrigen bereits für sich bemerkenswert, soll aber an dieser Stelle nicht vertieft werden. Wegner bestreitet mittlerweile offenbar eine Anweisung, was aber an dem Vorgehen der Polizei gegenüber unserem Kollegen auch nichts ändert. 

Als eine Person festgenommen wurde, wollte unser Kollege diese anwaltlich begleiten. Er wies sich dabei gegenüber den Polizeibeamten als Rechtsanwalt aus. Er teilte mit, dass er als Rechtsbeistand der Studierenden mit ausdrücklicher Zustimmung des Präsidiums der HU im Gebäude anwesend gewesen sei. Dennoch schreckten die Strafverfolgungsbehörden nicht davor zurück, den Kollegen festzunehmen. Als er forderte, zu benennen, was ihm vorgeworfen wird (Teil des Grundrechts auf rechtliches Gehör und des grundrechtlichen Rechtsstaatsprinzips), konnte man ihm das offenbar nicht sagen. Später belehrte man ihn als Beschuldigten wegen schweren Landfriedensbruchs. Außerdem wurde er einer erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen. Im Anschluss wurde ihm sogar noch – auch dies offensichtlich in Kenntnis seiner Eigenschaft als vor Ort tätiger Rechtsanwalt – ein Platzverweis für die nächsten 24 Stunden erteilt. Diese Maßnahmen ergingen offenbar, oder dass sein besonderer rechtlicher Status als dort beruflich tätiger Rechtsanwalt irgendwie berücksichtigt wurde.  Dieses uns mitgeteilte Vorgehen verstößt aus unserer Sicht gegen gleich mehrere Grundrechte: Zum einen stellt es einen schweren Eingriff in die von Art. 12 GG geschützte Berufsfreiheit der Rechtsanwält*innen dar, der unter keinem Gesichtspunkt zu rechtfertigen ist. Es muss offenbar daran erinnert werden, dass bereits in den 1970er Jahren das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden hat, dass die berufliche Tätigkeit von Anwälten besonders geschützt ist und daher etwa ein Ausschluss von Anwält*innen aus Verfahren ohne gesetzliche Grundlage verfassungswidrig ist. § 3 Abs. 2 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO), hält folgerichtig fest, dass das Recht der Anwaltschaft, in Rechtsangelegenheiten aller Art und auch gegenüber Behörden wie der Polizei beruflich tätig zu werden, nur durch ein Bundesgesetz beschränkt werden darf. Eine solche gesetzliche Grundlage ist hier nicht zu erkennen. Zudem bedeutet die Festnahme eines Rechtsanwalts zugleich regelmäßig, dass auch den von ihm beratenen Personen der Rechtsbeistand entzogen wird. Damit wird zusätzlich bei derartigen Maßnahmen immer auch in deren Grundrechte schwerwiegend eingegriffen. Der Bundesgerichtshof (BGH) führte dazu in den 1980er Jahren aus, dass etwa das Recht auf umfassende Verteidigung im Strafverfahren Verfassungsrang hat: „Es gehört zu den elementaren Attributen menschlicher Würde und zu den fundamentalen Prinzipien des Rechtsstaats“. Betroffen sind des Weiteren das grundgesetzliche Rechtsstaatsprinzip, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf rechtliches Gehör. Daher führt eine Kriminalisierung von Rechtsanwält*innen bei der grundrechtlich gewährleisteten Ausübung ihres Berufes zur Missachtung des Rechts auf rechtlichen Beistand insgesamt. Wir wenden uns entschieden gegen das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden und fordern von sämtlichen Akteur*innen und Institutionen in unserem Rechtsstaat, dem Grundgesetz nicht nur am 23. Mai durch Festakte zu gedenken, sondern sondern dafür zu sorgen, dass dieses an jedem Tag im Jahr auch eingehalten wird. Wir fordern, uneingeschränkt die verfassungsrechtlich verankerte Berufsfreiheit für Rechtsanwält*innen anzuerkennen.

Der Vorwurf gegen den Rechtsanwalt muss vor diesem Hintergrund sofort fallengelassen und die Hintergründe dieses Vorgehens müssen unverzüglich und transparent für die Öffentlichkeit aufgeklärt werden. 

Dies dürfte das Grundgesetz weit mehr ehren als jeder Festakt. Damit auch die Berliner Polizei sagen kann: „Grundgesetz: Da für Dich, 365 Tage im Jahr“. (Pressemitteilung des Vorstands der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen e.V.)
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Unterbindung und Einschränkung anwaltlicher Tätigkeiten bei dem Versammlungsgeschehen am Wochenende in Leipzig nach den Urteilen im „Antifa-Ost“-Prozess

Im Rahmen der Proteste gegen die Verurteilung von Antifaschist*innen vorletzte Woche und gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit in Leipzig kam es als Reaktion hierauf verschiedentlich zu freiheitsentziehenden Maßnahmen durch die Sächsische Polizei. Insbesondere setzte die Polizei am Samstag, den 03.06.2023 etwa 1.000 ehemalige Teilnehmer*innen einer Versammlung in einem sogenannten „Leipziger Kessel“ am Alexis-Schumann-Platz fest.

»Der RAV verurteilt das Vorgehen der Polizei aufs Schärfste. Rechtswidrig wurde den Betroffenen der Zugang zu vor Ort anwesenden Anwält*innen verweigert. Dass der sächsische Innenminister das fehlerhafte Vorgehen der Polizei beim „Leipziger Kessel“ deckt und Aufklärung verweigert, ist Ausdruck eines völlig verschobenen Diskurses, der autoritäre und rechte Strömungen weiter befeuert.«, so Rechtsanwalt Dr. Peer Stolle, Vorsitzender des RAV.

Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 6 III c der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie § 137 Abs. 1 der Strafprozessordnung garantieren allen Beschuldigten in Strafverfahren, sich in jeder Lage des Verfahrens von einem/einer Anwält*in verteidigen zu lassen. Mehreren im RAV organisierten Rechtsanwält*innen wurde trotz dieses grundlegenden Anspruchs der Betroffenen auf rechtlichen Beistand beim Leipziger Kessel der Kontakt mit sich darin befindenden Personen verweigert – und das, obwohl die Polizei bereits um 19:00 Uhr per Durchsage die Betroffenen als Beschuldigte in einem Strafverfahren über ihr Recht, sich anwaltlichen Beistand zu suchen, informierte.

So wurde schon zu Beginn dieses „Leipziger Kessels“ einer Kollegin das Gespräch oder auch nur die räumliche Annäherung an im Kessel befindliche Personen – notwendig zur ersten Kontaktaufnahme – verwehrt, obwohl zunächst Rufe nach Beistand zu vernehmen waren. Selbst eine Nachfrage bei den Betroffenen durch Polizeibeamt*innen, ob sie Kontakt mit der anwesenden Anwältin wünschten, wurde durch die Polizei ausgeschlossen.

Weitere Versuche von Kolleg*innen, den Betroffenen Beistand zu leisten, wurden über die folgenden Stunden hinweg trotz Insistierens der Anwält*innen durch die Polizei verhindert. Erst gegen Mitternacht durften einige wenige Kolleg*innen in den abgesperrten Bereich und dort mit einzelnen minderjährigen Betroffenen sprechen. Dass diese, sich bereits seit Stunden im Kessel befindenden Jugendlichen in der Menge der Personen vor Ort durch die Anwält*innen gesucht werden konnten, wurde durch die Polizei vorher ebenso abgelehnt, wie der Vorschlag, dass dann die Beamt*innen die betreffenden Minderjährigen ausfindig machen könnten. Eine „bevorzugte Abarbeitung von Minderjährigen“ war hier nicht zu erkennen.

Dazu erklärt Rechtsanwalt Mark Feilitzsch aus Dresden:

»Den etwa 1.000 Menschen im Leipziger Kessel wurde erklärt, dass sie Beschuldigte in einem Strafverfahren seien und das Recht hätten, einen Verteidiger hinzuzuziehen. Tatsächlich hat die Polizei jedoch genau das verhindert. Es ist zunehmend zu beobachten, dass im Zusammenhang mit politischen Protesten die anwaltliche Berufsausübung und damit der Zugang der Betroffenen zu rechtlichen Beistand behindert wird. Wenn – wie nun dieses Wochenende in Leipzig – viele Betroffene von den Nachmittagsstunden bis in den frühen Morgen ohne jeden Zugang zu anwaltlichem Beistand bleiben mussten, ist das mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren.«

Aber nicht nur den Rechtsanwält*innen wurde der Zugang zu den Betroffenen verwehrt. Auch den am Polizeikessel erschienenen und nachfragenden Eltern wurden ihre Kinder stundenlang vorenthalten. Selbst bei den anschließenden Maßnahmen der Belehrung der Minderjährigen, der Beschlagnahme von deren Telefonen, Durchsuchung und Identitätsfeststellung wurde den Eltern kein Anwesenheitsrecht eingeräumt. Die durch das stundenlange Festhalten eingeschüchterten und erschöpften Jugendlichen wurden aufgefordert, an polizeilichen Maßnahmen mitzuwirken und z.B. die PIN ihrer beschlagnahmten Telefone herauszugeben.

Dazu erklärt Rechtsanwältin Rita Belter aus Leipzig:

»Das Verhalten der Einsatzbeamt*innen verletzte in willkürlicher Weise die Rechte der Betroffenen und die der Sorgeberechtigten. Nun werden sich die Gerichte mit einer Vielzahl von Erlebnissen und der Feststellung deren Rechtswidrigkeit auseinandersetzen müssen.«

Eine weitere freiheitsentziehende Maßnahme wurde am 03.06.2023 vor dem Amtsgericht Leipzig vollzogen. Dort wurden ca. 20 – 25 Personen plötzlich von Polizeikräften zusammengedrängt und mit der Begründung, anlasslose Identitätsfeststellungen im Kontrollbereich vornehmen zu wollen, über zwei Stunden festgehalten. Die Identitätsfeststellung wurde – obwohl mehrfach angemahnt – erst 90 Minuten nach Kesselung begonnen. Zusätzlich erhielten alle dort Anwesenden einen grundlosen Platzverweis. Betroffen von diesen Maßnahmen war auch eine Rechtsanwältin, die unmittelbar nach der Haftvorführung ihres Mandanten bei dem Verlassen des Leipziger Amtsgerichts von den Polizeibeamt*innen mit in diesen Kessel gedrängt wurde und der ein Platzverweis nicht nur für das Gericht, sondern auch für den Ort ihrer Kanzlei ausgesprochen wurde.

Verschiedentliche Versuche, eine Begründung für die nicht nachvollziehbaren Maßnahmen zu erhalten, scheiterten. Widersprüche wurden nicht aufgenommen.

Auch mit diesem Vorfall werden sich die Gerichte beschäftigen müssen: Die betroffene Kollegin erhebt nun Klage zum Verwaltungsgericht gegen diesen schweren Eingriff in ihre Berufsausübungsfreiheit.

Ebenfalls wurde am darauf folgenden Sonntag jede Versammlung an der Gefangenensammelstelle an der Hauptwache der Polizei in Leipzig mit Verweis auf die Allgemeinverfügung (‚Versammlungsverbot‘) unterbunden. Als am Sonntag wartende Eltern, Angehörige und Freund*innen der (teilweise vorläufig) Festgenommenen an der Dimitroffstrasse auf die Entlassung der Festgenommenen aus dem „Leipziger Kessel“ warteten und versuchten, eine Versammlung anzumelden, wurden sie ebenfalls durch die Polizei gekesselt und Identitätsfeststellungsmaßnahmen unterzogen.

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Gesamtschau aller Indizien bei Beurteilung der Erfolgsaussichten der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB

Der Angeklagte wurde vom Landgericht wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit besonders schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Überdies wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist.

In der schriftlichen Urteilsbegründung bemängelt der zweite Senat die lückenhafte Erörterung bezüglich der hinreichend konkreten Aussicht auf einen Maßregelerfolg, die nach § 64 S. 2 StGB jedoch erforderlich ist.

Für eine Solche hinreichend konkrete Aussicht müssen sich in der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Verurteilten konkrete Anhaltspunkte für einen erfolgreichen Verlauf der Therapie finden lassen (BGH, Beschluss v. 20. März 2023 – 2 StR 479/21, Rn. 9; BGH, Beschluss v. 1. Oktober 2020 – 3 StR 325/20, juris, Rn. 4).

In der landgerichtlichen Entscheidung wurde die dissoziale Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten als negativer Faktor gewertet. Positiv sei jedoch seine Fähigkeit zur phasenweisen Abstinenz sowie das bisherige Fehlen von Therapieversuchen zu berücksichtigen.

Diese Indizien sind aus Sicht des BGH nicht ausreichend. Einbezogen werden soll überdies der soziale Empfangsraum des Angeklagten. Dieser umfasst beispielsweise folgende Aspekte: Familienstand, schulische und berufliche Ausbildung, das Vorhandensein einer Arbeitsstelle. Die Einbeziehung solcher Indizien muss im Rahmen einer Gesamtschau aller Indizien, die für und gegen eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sprechen, erfolgen.

Quelle: BGH, Beschluss v. 30. März 2023 – 2 StR 479/21

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Meyer-Goßner/ Schmitt – Strafprozessordnung: StPO in 66. Auflage erschienen

Der Standardkommentar Meyer-Goßner/ Schmitt zur Strafprozessordnung, dem Gerichtsverfassungsgesetz, Nebengesetzen und ergänzenden Bestimmungen ist am 03. Mai 2023 in 66. Auflage erschienen.

Das Werk ist Teil der Reihe Beck´sche Kurz-Kommentare und zur Zweiten Juristischen Staatsprüfung in allen Bundesländern zugelassen.

Der Kommentar zeichnet sich durch seine umfassende Darstellung des Strafprozessrechts aus. Es bietet eine detaillierte Analyse aller relevanten Vorschriften, einschließlich der neuesten Änderungen und Entwicklungen. Die Darstellungen erfolgen in klarer und verständlicher Sprache und weisen dabei die erforderliche Präzision und Tiefe auf.

Überdies ist das Werk sehr benutzerfreundlich gestaltet. Dabei überzeugen insbesondere die gute Strukturierung, klare Gliederung und der Fettdruck von Schlüsselbegriffen, um so schnell zu den relevanten Informationen zu gelangen. Unterstützt wird dies durch das Stichwortverzeichnis.

Ein weiterer Pluspunkt ist die Aktualität des Kommentars. Die Neuauflage ist durchgehend auf dem Bearbeitungsstand vom März 2023 und berücksichtigt alle aktuellen Entwicklungen im Strafverfahrensrecht für den Zeitraum März 2022 bis März 2023. Unter anderen werden einbezogen:

  • das Gesetz über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2022, zur elektronischen Erhebung der Bankenangabe und zur Änderung der StPO vom 25. März 2023
  • das Sanktionsdurchsetzungsgesetz II vom 19. Dezember 2022

Der Standardkommentar ist mit seinen 1439 g und 2.867 Seiten sehr handlich und komprimiert, was jedoch keine Auswirkung auf die Qualität der Darstellungen hat. Diese befassen sich umfassend mit allen Fragen des Strafprozessrechts. Dabei wird unter anderem die aktuelle Rechtsprechung ausgewertet und einbezogen. Ein Augenmerk wird dabei auf die Entscheidungen des BGH und der OLG zu folgenden Themen gelegt:

  • neuen Pflichtverteidigerrecht
  • zur Reichweite des Verwertungsverbots in § 136 III 2 StPO
  • zum Selbstleseverfahren
  • zu den Mitteilungspflichten über Verständigungsgespräche nach ausgesetzter Hauptverhandlung
  • zur verfahrensübergreifenden Gesamtlösung bei Absprachen
  • zu den revisionsrechtlichen Folgen eines Verstoßes gegen § 29 III 1 StPO
  • zur Befangenheit durch Vorbefassung bei Urteilen gegen Mittäter
  • zur Anwendbarkeit des § 29 III I Nr. 1 auf Ergänzungsrichter
  • Befangenheit einer Schöffin und Selbstanzeige
  • Entscheidungen des BGH und der OLG zu § 32d S. 2 StPO

Darüber hinaus werden auch Grundsatzentscheidungen des BVerfG, EGMR, EuGH sowie die neueste Literatur umfassend eingearbeitet.

Der Preis von 109,00 Euro erscheint für den Kommentar aufgrund seiner inhaltlichen Qualität und seines Umfangs von 2.867 Seiten angemessen.

Eine Leseprobe zur aktuellen Ausgabe befindet sich im Beck-Shop: https://www.beck-shop.de/meyer-gossner-schmitt-strafprozessordnung-stpo/product/34603955

Meyer-Goßner/ Schmitt, Strafprozessordnung, Kommentar, 66. Auflage, Beck, München 2023, 2.867 Seiten, 109 Euro

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Müller/Opper/von Stetten – Berufsrisiken des Strafverteidigers – in 2. Auflage erschienen

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14 Jahre später ist nun die 2. Auflage der „Berufsrisiken des Strafverteidigers“ erschienen. Während Dr. Eckhart Müller weiterhin einer der Autoren geblieben ist, hat Rechtsanwalt Klaus Gussmann das Team verlassen. An seine Stelle sind getreten, die Fachanwälte für Strafrecht Florian Opper und Dr. Annette von Stetten.

In dem Zeitraum von 14 Jahren sind eine Reihe von Gesetzesänderungen erfolgt, die speziell auch die Rolle des Strafverteidigers betreffen. Hervorzuheben sind insbesondere:

  • Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009
  • Gesetz zur Stärkung des Vertrauensverhältnisses zu Rechtsanwälten im Strafprozess vom 22. Dezember 2010
  • Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017

Darüber hinaus wurde selbstverständlich auch die Rechtsprechung seit 2007 und die neu erschienene Literatur sorgfältig eingearbeitet.

Das Buch kostet 49,00 € und wendet sich in erster Linie an Strafverteidiger, aber auch Strafverfolgungsbehörden und Gerichte.

Der bewährte dreiteilige Aufbau des Werkes ist beibehalten worden:

Im 1. Teil wird zunächst auf knapp 100 Seiten das einschlägige Straf- und Berufsrecht behandelt. Hierbei werden ausführlich die Risiken beim Umgang mit Mandanten – zu nennen sind hier beispielsweise die Strafvereitelung, die Prävarikation, die Beihilfe zur Straftat des Mandanten und verbotener Verkehr mit Gefangenen – beschrieben. Sodann werden die Risiken beim Umgang mit Dritten, Geld, Kollegen und Hilfspersonen sowie Behörden und Gerichten näher beleuchtet.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit prozessualen Besonderheiten, wie Durchsuchung und Beschlagnahme in der Anwaltskanzlei, strafrechtliches Berufsverbot und Ausschlussverfahren gem. § 138a StPO.

Abschließend wird das berufsgerichtliche Verfahren noch kurz dargestellt, wobei das Verhältnis zum allgemeinen Strafrecht, Maßnahmen des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer und das anwaltsgerichtliche Verfahren erläutert werden.

Das Werk brilliert nicht nur mit seiner klaren Struktur, sondern klärt auch noch umfassend und zuverlässig über alle straf- und zivilrechtlichen Risiken der Strafverteidigung auf. Die Fallbeispiele erhöhen den Bezug zur Praxis und helfen, die nicht immer einfachen Themen zu verstehen und besser nachzuvollziehen. Auch die Praxistipps tragen zum besseren Verständnis bei und geben wertvolle Ratschläge, wie mit bestimmten häufig in der Strafverteidigerpraxis auftretenden Problemen umzugehen ist.

Des Weiteren ist dieses Buch ein reines Lesevergnügen, was nicht nur auf die klar strukturierte Gliederung zurückzuführen ist, sondern auch auf den Schreibstil und die mithilfe des Fettdrucks hervorgehobenen Schlüsselbegriffe. Die Fußnoten sind auf das Wesentliche beschränkt und der Leser findet zahlreiche gerichtliche Entscheidungen des BGH, der OLG und des BVerfG sowie weiterführende Literatur, wodurch eine vertiefte Auseinandersetzung mit einzelnen größeren Problemkreisen ermöglicht wird.

Zusammenfassend ist dieses Buch unverzichtbar für jeden jungen Kollegen, dem bestimmte Berufsrisiken noch nicht bekannt sind und für jeden alten Routinier, der möglicherweise einige Berufsrisiken zu unterschätzen beginnt. Aber auch Rechtsreferendare, die sich für die Berufsrichtung des Strafverteidigers interessieren, können von dem Inhalt dieses Bandes, den man angesichts von übersichtlichen gut 150 Textseiten schnell durchgearbeitet hat, durchaus profitieren.

Müller/Opper/von Stetten – Berufsrisiken des Strafverteidigers, 2. Auflage, Beck-Verlag, München 2022, 153 Seiten, 49,00 €.

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StA Berlin: Neue Schwerpunktstaatsanwaltschaft für EncroChat-Verfahren

Es war eine Frage der Zeit: Nach einem Bericht von LTO hat die Staatsanwaltschaft Berlin eine neue Schwerpunktabteilung für EncroChat-Verfahren gegründet, in der neben dem Abteilungsleiter sieben Staatsanwälte tätig sein sollen. Aktuell seien 80 Ermittlungsverfahren anhängig, in zehn Fällen sei Anklage erhoben worden, in fast jedem Fall zum Landgericht.

EncroChat war ein in Europa ansässiger Dienstleistungsanbieter, der Lösungen für Ende-zu-Ende verschlüsselte Instantmessenger und Endgeräte (Krypto-Handys) anbot. Im Frühsommer 2020 infiltrierten französische Ermittlungsbehörden das System und fischten Millionen Nachrichten, zuweilen auch aus kriminellen Milieus, ab. Danach nahm die Bedeutung von EncroChat erheblich ab.

Über die Verwertbarkeit der Erkenntnisse ist noch nicht abschließend entschieden worden. Das Landgericht Berlin hatte 2021 in einem mutigen Beschluss die Verwertbarkeit verneint, das Kammergericht (und andere Oberlandesgerichte) sah es jedoch anders.

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Beleidigung und Körperverletzung vor Supermarkt – Einstellung nach § 153a Abs. 2 StPO

Unser Mandant erhielt einen Strafbefehl. Darin wurde ihm vorgeworfen, den stellvertretenden Marktleiter eines Supermarkts mit den Worten „Nazisau, Rockerschwein“ beschimpft und ihn in das Gesicht gespuckt zu haben. Zudem soll unser Mandant mit dem rechten Bein in Richtung des Zeugen getreten und ihn am linken Oberschenkel getroffen haben. Hintergrund der Auseinandersetzung waren Unstimmigkeiten darüber, ob unser Mandant mit seinem minderjährigen Kind trotz Pandemieverordnung den Supermarkt betreten dürfe.

Nach Akteneinsicht kamen bereits erhebliche Zweifel auf, ob der Zeuge den Sachverhalt wahrheitsgemäß beschrieben hatte. Es irritierte bereits, dass der Zeuge in den verschiedenen Vernehmungssituationen ganz unterschiedliche Funktionen bekundete, die er in dem Markt ausgeübt haben will. Zunächst erklärte er, als Sicherheitsmitarbeiter tätig gewesen zu sein. In seiner späteren Vernehmung gab er an, stellvertretender Marktleiter zu sein.

Zudem hatte das Spucken und die Beleidigungen lediglich der angebliche Marktleiter, nicht aber weitere Mitarbeiter gesehen, obgleich letztere aufgrund ihrer beruflichen Stellung ebenfalls im Lager des Zeugen zu vermuten gewesen wären.

Die Handlungen unseres Mandanten waren jedoch nicht gemäß § 32 StGB gerechtfertigt. Daher regte Rechtsanwalt Stern an, das Verfahren gegen Zahlung einer Geldauflage einzustellen.

Rechtsanwalt Stern führte aus, dass die Doppelbelastung aus Kinderbetreuung und Berufstätigkeit unseren Mandaten schnell an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht hatten. Dass man sich unter diesen Umständen nicht in jeder sozialen Situation so verhält, wie es Sitte ist, erschien menschlich nachvollziehbar.

Das Amtsgericht schloss sich der Auffassung von Rechtsanwalt Stern im Ergebnis an und stellte das Verfahren gegen Zahlung einer geringen Geldauflage ein.

Dadurch unterblieb eine Eintragung in das Bundeszentralregister. Unser Mandant gilt weiterhin als unschuldig.

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