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Aus aktuellem Anlass: Stellungnahme der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen e.V. zur Unschuldsvermutung

Die Unschuldsvermutung ist aktuell wieder in der Diskussion. Diese Diskussion zeigt, wie schnell grundlegende Prinzipien unseres Zusammenlebens durch emotionale oder politische Dynamiken untergraben werden können. Sie zeigt, dass und wie Einseitigkeit „der guten Sache wegen“ in die Sackgasse führt. Eine solche Entwicklung gefährdet nicht nur Einzelpersonen, auch nicht „nur“ das Strafverfahren, sondern die Grundfesten unserer Demokratie. Die Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen e.V. setzt sich daher entschieden für den Schutz der Unschuldsvermutung ein. Wir fordern, diese nicht nur in Strafverfahren wieder verstärkt zu achten, sondern sie generell in der Gesellschaft als wesentliches und moralisches Ordnungsprinzip unseres Zusammenlebens anzuerkennen.

Was ist die Unschuldsvermutung?

Ganz allgemein gesagt verlangt die Unschuldsvermutung zunächst nur etwas sehr Schlichtes: Vorwürfe nicht einfach zu glauben, sondern immer (auch) zu bedenken, dass die beschuldigte Person unschuldig sein kann und sie daher bis zum Vorliegen von Beweisen des Gegenteils entsprechend zu behandeln. Sie fordert daher zu Ermittlungen ebenso auf wie dazu, sich über das Ergebnis dieser Ermittlungen ein Bild zu machen. Sie fordert zu prüfen, ob sich die Ermittlungsergebnisse auch durch ein unschuldiges Verhalten erklären lassen können.

Ist die Unschuldsvermutung nur ein rechtliches und kein moralisches Prinzip, das außerhalb der Gerichte oder des Strafverfahrens nicht gilt?

Dazu kommt es zunächst darauf an, wie „Moral“ definiert wird. Nach einer verbreiteten Definition wird als Moral der Teil der Konventionen und Regeln bezeichnet, dessen Befolgung im zwischenmenschlichen Miteinander als „richtig“ und dessen Nichtbefolgung als „falsch“ bewertet wird. Sollen Behauptungen, die Relevanz im zwischenmenschlichen Miteinander haben, überprüft werden, bevor daran Konsequenzen geknüpft werden? Wir halten das als Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, aber auch als Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft, für unbedingt richtig. Eine Gesellschaft, in der Vorwürfe ungeprüft zu Konsequenzen führen sollen, halten wir dagegen nicht für erstrebenswert. Wir gehen davon aus, dass dies ein wesentlicher Teil unserer Gesellschaft ebenso sieht. Insofern handelt es sich also nicht nur um ein rechtliches, sondern auch um ein moralisches Prinzip, das den Diskurs in unserer Gesellschaft grundlegend bestimmen sollte.

Gefahren einer Kultur der Nichtüberprüfung

Die Unschuldsvermutung ist zu allen Zeiten gerade bei denen unbeliebt gewesen, die in die ein oder andere Richtung endlich einmal „durchgreifen“ wollten. Immer schon gab es Stimmen, denen es zu mühsam war, Beweise ergebnisoffen zu sammeln und zu würdigen. Nicht selten im Sinne einer aus Sicht der Handelnden „guten Sache“. Personen werden dann bereits durch bloße Anschuldigungen beruflich und gesellschaftlich ruiniert, bevor eine Klärung erfolgt. Wenn bloße Vorwürfe anstelle von Beweisen über Schuld oder Unschuld entscheiden, verlieren der Rechtsstaat, die Gesellschaft und ihre Organisationen ihre Integrität. Auch dies belegt, dass es sich bei der Unschuldsvermutung  nicht nur um ein rechtliches, sondern um ein moralisches Prinzip handelt.

Nicht erst in der aktuellen Debatte fällt auf, dass die Unschuldsvermutung zunehmend einer „Kultur der Nichtüberprüfung“ weicht. Natürlich kann sich eine Organisation, ein Verband oder eine Partei sich für ihre inneren Angelegenheiten dafür entscheiden, ihre Handlungen von unüberprüften Vorwürfen leiten zu lassen. Ihr sollte dann klar sein, dass sie sich damit bei denjenigen einreiht, die Glauben über Wissen stellen, die Gerüchte wie Tatsachen behandeln, die das eigene Gefühl als Beweis ausreichen lassen.

Handlungen auf unüberprüfter Grundlage schaden auch tatsächlichen Opfern

Wenn in der aktuellen Debatte etwa Aussagen getroffen werden wie „was es aber bedeutet, in einer feministischen Partei zu sein, ist, dass Betroffenen geglaubt wird“, dann könnten diese die vorstehend beschriebene, bedenkliche Entwicklung nicht besser illustrieren. Wir bezweifeln, dass der Feminismus verlangt, andere auf Basis von unüberprüften Behauptungen zu sanktionieren. Vielmehr schwächt eine unkritische Übernahme von Anschuldigungen auch die Glaubwürdigkeit wirklicher Opfer in Aussage-gegen-Aussage-Situationen. Dies untergräbt deren Anliegen und erschwert es, wahre Taten aufzuklären.

Unbestreitbar muss es für Betroffene die Möglichkeit geben, Unterstützung zu erhalten. Dass der Ausgleich der beiden gleichermaßen moralischen Prinzipien der Betroffenenunterstützung und der Unschuldsvermutung nicht einfach ist, ist ebenfalls eindeutig. Die Geschichte zeigt, dass es keine sinnvolle Lösung sein kann, nur einer Seite zu glauben, auch dann nicht, wenn man diese Einseitigkeit als „Betroffenengerechtigkeit“ verkauft.

Berlin, den 11. Februar 2025 Der Vorstand des Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen e.V.

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Gemeinsame Presseerklärung der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen und des Republikanischen Anwält*innen- und Anwältevereins zur verfassungswidrigen Auslieferung von Maja T. nach Ungarn

Das Bundesverfassungsgericht hat mit einem Beschluss vom 24.01.2025 die
Auslieferung von Maja T. nach Ungarn für verfassungswidrig erklärt.

Maja T. ist eine nonbinäre Person, der durch die ungarischen Strafverfolgungsbehörden vorgeworfen wird, im Februar 2023 gemeinsam mit weiteren Antifaschist*innen Angehörige der rechtsextremen Szene in Budapest angegriffen zu haben. Im Dezember 2023 wurde sie in Berlin festgenommen. Am 27.06.2024 erklärte das Kammergericht ihre Auslieferung nach Ungarn für zulässig.


Mit Beschluss vom 28.06.2024 untersagte das Bundesverfassungsgericht die Übergabe von Maja T. an die ungarischen Behörden im Wege der einstweiligen Anordnung. Maja T wurde jedoch auf Anordnung der Berliner Generalstaatsanwaltschaft noch vor dem Erlass dieser Entscheidung an die ungarischen Behörden überstellt.

https://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/auslieferung-von-maja-t-nach-ungarn-sofort-stoppen-1056

Das Bundesverfassungsgericht sieht eine Verletzung des Grundrechts von Maja T. aus Art. 4 GRCh (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) gegeben. Obwohl dem Kammergericht durch die Verteidiger von Maja T umfassende Unterlagen vorgelegt worden seien, mit denen hinreichende Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel hinsichtlich der Haftbedingungen in Ungarn dargelegt worden seien, habe das Kammergericht seine diesbezügliche Pflicht zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts verletzt. Zudem könne das Kammergericht nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass der Schutz von Maja T, die sich als non-binär identifiziere, hinreichend gewährleistet sei.

Ria Halbritter, die Vorsitzende der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen, zeigt sich über den Beschluss sehr erfreut. „Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass die Haftbedingungen in Ungarn nicht nur für nonbinäre Personen problematisch sind. Vielmehr äußert es darüber hinaus ganz allgemein deutliche Kritik an der menschenrechtlichen Lage in ungarischen Haftanstalten. Damit hat der Beschluss über den Einzelfall von Maja T. hinaus erhebliche Bedeutung.“ Maik Elster, einer der Verteidiger von Maja T., kritisiert das Verhalten der Generalstaatsanwaltschaft Berlin: „Der überhastete Vollzug der Auslieferung, ohne den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im Eilverfahren abzuwarten, hat die Verletzung der Grund- und Menschenrechte von Maja T. erst ermöglicht. Hier muss eine politische Aufarbeitung erfolgen.“

Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Wortlaut

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Halterduldung – Verfahrenseinstellung gemäß § 170 Abs. 2 StPO

Unserem Mandanten wurde vorgeworfen, mit seinem Beifahrer in einem Pkw gefahren zu sein. Nachdem unser Mandant und sein Beifahrer an einem Streifenwagen vorbeifuhren, hätten sie angehalten, die Plätze getauscht und anschließend die Fahrt fortgesetzt. Der Beifahrer sei nicht im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis gewesen, weshalb er Beschuldigter in einem Verfahren wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis wurde. Indem wiederum unser Mandant den mitbeschuldigten Beifahrer, der nicht im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis gewesen sei, mit seinem Pkw habe fahren lassen, habe sich unser Mandant wegen Halterduldung gemäß § 21 Abs. 1 Ziffer 2 StVG strafbar gemacht.

Nach Mandatierung wurde Rechtsanwalt Stern die Akte aus Westdeutschland zugeschickt. Er verfasste sodann einen umfangreichen Schriftsatz, in dem er die Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO beantragte. In diesem trug Rechtsanwalt Stern folgendes vor:

Unser Mandant ging davon aus, dass der Mitbeschuldigte im Besitz eines gültigen Führerscheins war.

Da die Halterduldung jedoch auch fahrlässig begangen werden kann, hätte unser Mandant die erforderlichen Überwachungspflichten beachten müssen. Dies sei auch geschehen:

Zwar muss sich der Halter eines Fahrzeugs grundsätzlich davon überzeugen, dass der Führer eines Kfz die erforderliche Fahrerlaubnis hat (OLG Frankfurt NJW 65, 2312), dies kann ihm jedoch unter besonderen Umständen unzumutbar sein. Die Fahrerlaubnis des Mitbeschuldigten hatte sich unser Mandant nicht zeigen lassen, gleichwohl zweifelte er nicht an ihrer Existenz. Der Mitbeschuldigte hatte nämlich zuvor erklärt über eine solche zu verfügen, diese aber nicht bei sich zu führen. Folglich beachtete unser Mandant die erforderlichen Halterpflichten.

Außerdem schilderte Rechtsanwalt Stern, dass der Mitbeschuldigte über beeindruckende Kenntnisse im Bereich der Pkw-Technik verfügt habe, ein Faible für Fahrzeuge besessen habe und stets ein hilfsbereiter Ansprechpartner bei Problemen mit dem Kfz gewesen sei. Der Pkw unseres Mandanten wies einige Probleme auf, weshalb unser Mandant seinen Mitbeschuldigten um Rat gefragt habe. Dieser vermutete Komplikationen im Bereich der Batterie, und habe angeboten, unseren Mandanten auf einer Probefahrt als Beifahrer zu begleiten, um diese genauer zu untersuchen. Es sei jedoch nicht geplant gewesen, dass der Mitbeschuldigte das Fahrzeug selbst steuert.

Weiterhin trug Strafverteidiger Rechtsanwalt Stern vor, dass der Mitbeschuldigte grundsätzlich im Besitz eines Führerscheins gewesen sei. Die Fahrerlaubnis des Mitbeschuldigten wurde in der Türkei ausgestellt, sodass sie innerhalb von sechs Monaten hätte umgeschrieben werden müssen. Der Mitbeschuldigte hielt sich seit elf Monaten in Deutschland auf und hatte eine Umschreibung noch nicht vorgenommen. Damit rechnete unser Mandant jedoch nicht und musste dies auch nicht.

Nach alledem bestand kein hinreichender Tatverdacht im Sinne einer überwiegenden Verurteilungswahrscheinlichkeit gegen unseren Mandanten, sodass die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren antragsgemäß einstellte. Unser Mandant war sehr erfreut über den Ausgang des Verfahrens, er gilt weiterhin als unschuldig.

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Seifert: Forensische Psychiatrie

Regelmäßige Leser des Fachblogs haben sicherlich festgestellt, dass wir besonders gern Kommentarliteratur rezensieren und darüber berichten, was sich zwischen der 57. und der 58. Auflage geändert hat. Ab und zu bringt der freundliche DHL-Bote jedoch eine Erstauflage ins Büro. Und wenn dann die Pausenglocke läutet, ist Zeit für ganz Neues. So auch hier:

Der Autor, Dieter Seifert, Jahrgang 1959, ist studierter Humanmediziner und Ärztlicher Direktor der Alexianer Christophorus Klinik in Münster (Habilitation zu Gefährlichkeitsprognosen von Patienten des psychiatrischen Maßregelvollzugs), lehrt forensische Psychiatrie sowohl an medizinischen als auch juristischen Fakultäten und ist zudem seit 30 Jahren als Gerichtsgutachter tätig. Sagen wir es so: Seifert braucht für dieses Werk keinen Ghostwriter.

Das Buch hat eine gut nachvollziehbare Gliederung: Der Autor widmet sich zunächst der psychiatrischen Krankheitslehre und erläutert dann verschiedene Krankheitsbildern an, die gelungen nach den Eingangsmerkmalen des § 20 StGB – der Zentralnorm für Schuldunfähigkeit aufgrund seelischer Störungen – geordnet sind. Im Anschluss werden Fragen des gerichtlichen Sachverständigengutachtens, des Maßregelvollzugs und der Beurteilung von Legalprognosen erörtert.

Immer wieder gelingt es ihm dabei, einen Bogen zu spannen von der medizinisch-psychiarischen Fachmaterie zum juristischen Anwendungsbereich, was es nicht nur für Studierende und Praktiker der forensischen Psychologie, sondern auch Studierende und Praktiker der Juristerei äußerst empfehlenswert macht.

Der Text ist angenehm lesbar, was auch an den immer wieder eingestreuten reale Fallbeispielen und solchen aus Filmen und Romanen dient. Eine gute Idee!

Etwas stärker ins Detail hätte der Autor allenfalls hinsichtlich der Differenzierung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die in der forensischen Psychiatrie sonst nach meiner Wahrnehmung eine große Rolle spielen. Auch ein Exkurs in die Strafrechtssysteme anderer Staaten und deren Beurteilung psychischer Krankheiten in Bezug auf persönlich vorwerfbare Schuld. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein äußerst gelungenes Fachbuch, welches sich mit der Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Strafrecht befasst.

Insgesamt zeigt das Werk jedoch auf eine umfangreiche, aber nicht überfordernde Art die Grundlagen vor psychischer Erkrankungen im juristischen und kriminologischen Kontext auf. Dabei wird das Buch ohne Zweifel seinem Anspruch gerecht, die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Bereich der forensischen Psychiatrie zu fördern. Wir empfehlen es gern.

Seifert, Dieter: Forensische Psychiatrie, Beck, München 2024, 69 Euro.

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Sicherheitslücke bei TELIO – mehr als 500.000 Gespräche betroffen

Die Sicherheitsforscherin Lilith Wittmann hat eine Sicherheitslücke bei TELIO aufgedeckt. Die ZEIT- Online konnte die Daten sichten und berichtete am 26.6.2024 darüber. Demnach waren Daten von mehr als 14.000 Inhaftierten im Internet frei zugänglich.

Details dazu gibt es auf der Medium-Seite von Lilith Wittmann [externer Link].

Darunter seien der volle Name und die Haftanstalt, vermutlich über Jahre, offen im Internet zu finden. Aus den Daten von mehr als 500.000 Gesprächen gehe sowohl hervor, wer wann mit wem telefoniert hat, als auch das „Verhältnis“ des Inhaftierten zum Gesprächspartner (etwa: Mutter, Freund, Anwalt, Therapeut). Zudem seien Gespräche abgehört und aufgezeichnet worden. Die Mitschnitte fänden sich ebenfalls im Internet.

Die Betreiberin von TELIO, die Gerdes Communications GmbH, hat die Sicherheitslücke gegenüber ZEIT-Online eingeräumt.

Dass die für die Justizvollzugsanstalten zuständigen Justizbehörden offenbar das Telekommunikationssystem TELIO und die dazugehörige Datenverarbeitung nicht auf Sicherheit geprüft haben, ist erschütternd.

Erschütternd ist gleichermaßen, dass Gerdes Communication laut ZEIT-Online die betroffenen Justizvollzugsanstalten und Behörden nur zögerlich informiert.

Dieses, von uns datenschutzwidrig eingeordnete, Verhalten der Gerdes Communications GmbH wird sicherlich nicht unerheblich durch die Quasimonopolstellung von TELIO ermöglicht. Der Strafvollzug ist eine sog. Kritische Infrastruktur (KRITIS). Damit einhergehend sind besondere Regelungen und Verpflichtungen qua Gesetz, nicht nur bezüglich der Energieversorgung bei einem Blackout, sondern gerade auch bezüglich der IT-Sicherheit und des Datenschutzes der Betroffenen. Die Daten sind sensibel. Verstöße gegen den Datenschutz sind schwere Eingriffe in die Grundrechte der Betroffenen.

Die schweren Grundrechtseingriffe durch die Verfügbarkeit der Daten im Internet gehen bei Inhaftierten und bei im Maßregelvollzug Untergebrachten mit einer ins persönliche Umfeld reichenden Stigmatisierung einher. Im frei zugänglichen TELIO-Datenmeer versinkt dabei die Unschuldsvermutung aller betroffenen Untersuchungshäftlinge aus Art 6 Abs. 2 EMRK gleich mit.

Uns Strafverteidiger*innen betreffend wird der Schutz des Mandatsverhältnisses verletzt und unsere Berufsgeheimnispflicht ad absurdum geführt. Dasselbe gilt für Ärzt*innen und Therapeut*innen.

Ganz gleich, ob die Sicherheitslücke durch Cyberkriminelle oder Geheimdienste ausgenutzt wurde oder nicht, muss dem unverantwortlichen Verhalten von Gerdes Communications GmbH als Betreiberin von TELIO im Sinne unserer Mandant*innen, deren Familien, deren Therapeut*innen und deren Rechtsanwält*innen ein Ende gesetzt werden. Laut Lilith Wittmann sind Berliner Anstalten wohl nicht betroffen.

Gleichwohl fordern wir im Sinne unserer Mandant*innen und unserer Mitglieder die Gerdes Communications GmbH dazu auf, der Datenschutzbeauftragten des Landes Berlin alle relevanten Informationen zur Verfügung zu stellen, damit diese selbst eine Überprüfung durchführen kann. Außerdem fordern wir die Senatsverwaltung für Justiz auf, eine datenschutzkonforme und sichere Telekommunikation der Inhaftierten und im Maßregelvollzug Untergebrachten zu ermöglichen und sicherzustellen.

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Protest gegen Festnahme eines Rechtsanwalts bei der Besetzung der HU

Am 23. Mai 2024 wurde das 75-jährige Bestehen des Grundgesetzes gefeiert. Leider zeigte sich gerade an diesem Tag, dass die Einhaltung von Grundrechten durch die Polizei auch 75 Jahre nach ihrem Inkrafttreten nicht als selbstverständlicher Mindeststandard gewährleistet ist. Die Festnahme eines Rechtsanwalts während der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit stellt einen schweren Grundrechtseingriff dar, der generell zu unterbleiben hat. Es darf nicht sein, dass die Staatsspitze die Grundrechte feiert, während wenige Kilometer entfernt die staatlichen Akteure, die mit den Bürgerinnen und Bürgern in direkten Kontakt kommen, eben diese Grundrechte außer Acht lassen. Nach den uns vorliegenden Informationen hat sich Folgendes ereignet: Am vergangenen Mittwoch und Donnerstag besetzten Studierende das Sozialwissenschaftliche Institut der Humboldt-Universität (HU). Ein anwaltlicher Kollege und Mitglied der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen fungierte an beiden Tagen als Rechtsbeistand der besetzenden Studierenden. Das Recht auf anwaltlichen Beistand besteht auch für die Protestierenden uneingeschränkt. Nach den uns bekannten Informationen war unser Kollege während der Gespräche mit dem Präsidium der HU anwesend und zudem auch durch dieses zugelassen. In Absprache mit dem Präsidium der HU sollte den Studierenden am Donnerstag die Gelegenheit gegeben werden, das Gebäude gemeinsam mit den Professor*innen geordnet und ohne polizeiliches Einschreiten zu verlassen. Trotz zunächst gewährter Zusage hinsichtlich des geplanten Ablaufs seitens der Polizeilichen Leitung wurde das Gebäude schließlich geräumt und sämtliche Personen einer Identitätsfeststellung unterzogen. Aus verschiedenen Quellen ist zu entnehmen, so berichten es etwa „Der Tagesspiegel“ und „Die Zeit“, dass die Anweisung der Räumung ausdrücklich von dem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner und dem Senat erteilt worden sie soll. Auch dies wäre im Übrigen bereits für sich bemerkenswert, soll aber an dieser Stelle nicht vertieft werden. Wegner bestreitet mittlerweile offenbar eine Anweisung, was aber an dem Vorgehen der Polizei gegenüber unserem Kollegen auch nichts ändert. 

Als eine Person festgenommen wurde, wollte unser Kollege diese anwaltlich begleiten. Er wies sich dabei gegenüber den Polizeibeamten als Rechtsanwalt aus. Er teilte mit, dass er als Rechtsbeistand der Studierenden mit ausdrücklicher Zustimmung des Präsidiums der HU im Gebäude anwesend gewesen sei. Dennoch schreckten die Strafverfolgungsbehörden nicht davor zurück, den Kollegen festzunehmen. Als er forderte, zu benennen, was ihm vorgeworfen wird (Teil des Grundrechts auf rechtliches Gehör und des grundrechtlichen Rechtsstaatsprinzips), konnte man ihm das offenbar nicht sagen. Später belehrte man ihn als Beschuldigten wegen schweren Landfriedensbruchs. Außerdem wurde er einer erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen. Im Anschluss wurde ihm sogar noch – auch dies offensichtlich in Kenntnis seiner Eigenschaft als vor Ort tätiger Rechtsanwalt – ein Platzverweis für die nächsten 24 Stunden erteilt. Diese Maßnahmen ergingen offenbar, oder dass sein besonderer rechtlicher Status als dort beruflich tätiger Rechtsanwalt irgendwie berücksichtigt wurde.  Dieses uns mitgeteilte Vorgehen verstößt aus unserer Sicht gegen gleich mehrere Grundrechte: Zum einen stellt es einen schweren Eingriff in die von Art. 12 GG geschützte Berufsfreiheit der Rechtsanwält*innen dar, der unter keinem Gesichtspunkt zu rechtfertigen ist. Es muss offenbar daran erinnert werden, dass bereits in den 1970er Jahren das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden hat, dass die berufliche Tätigkeit von Anwälten besonders geschützt ist und daher etwa ein Ausschluss von Anwält*innen aus Verfahren ohne gesetzliche Grundlage verfassungswidrig ist. § 3 Abs. 2 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO), hält folgerichtig fest, dass das Recht der Anwaltschaft, in Rechtsangelegenheiten aller Art und auch gegenüber Behörden wie der Polizei beruflich tätig zu werden, nur durch ein Bundesgesetz beschränkt werden darf. Eine solche gesetzliche Grundlage ist hier nicht zu erkennen. Zudem bedeutet die Festnahme eines Rechtsanwalts zugleich regelmäßig, dass auch den von ihm beratenen Personen der Rechtsbeistand entzogen wird. Damit wird zusätzlich bei derartigen Maßnahmen immer auch in deren Grundrechte schwerwiegend eingegriffen. Der Bundesgerichtshof (BGH) führte dazu in den 1980er Jahren aus, dass etwa das Recht auf umfassende Verteidigung im Strafverfahren Verfassungsrang hat: „Es gehört zu den elementaren Attributen menschlicher Würde und zu den fundamentalen Prinzipien des Rechtsstaats“. Betroffen sind des Weiteren das grundgesetzliche Rechtsstaatsprinzip, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf rechtliches Gehör. Daher führt eine Kriminalisierung von Rechtsanwält*innen bei der grundrechtlich gewährleisteten Ausübung ihres Berufes zur Missachtung des Rechts auf rechtlichen Beistand insgesamt. Wir wenden uns entschieden gegen das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden und fordern von sämtlichen Akteur*innen und Institutionen in unserem Rechtsstaat, dem Grundgesetz nicht nur am 23. Mai durch Festakte zu gedenken, sondern sondern dafür zu sorgen, dass dieses an jedem Tag im Jahr auch eingehalten wird. Wir fordern, uneingeschränkt die verfassungsrechtlich verankerte Berufsfreiheit für Rechtsanwält*innen anzuerkennen.

Der Vorwurf gegen den Rechtsanwalt muss vor diesem Hintergrund sofort fallengelassen und die Hintergründe dieses Vorgehens müssen unverzüglich und transparent für die Öffentlichkeit aufgeklärt werden. 

Dies dürfte das Grundgesetz weit mehr ehren als jeder Festakt. Damit auch die Berliner Polizei sagen kann: „Grundgesetz: Da für Dich, 365 Tage im Jahr“. (Pressemitteilung des Vorstands der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen e.V.)
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Unterbindung und Einschränkung anwaltlicher Tätigkeiten bei dem Versammlungsgeschehen am Wochenende in Leipzig nach den Urteilen im „Antifa-Ost“-Prozess

Im Rahmen der Proteste gegen die Verurteilung von Antifaschist*innen vorletzte Woche und gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit in Leipzig kam es als Reaktion hierauf verschiedentlich zu freiheitsentziehenden Maßnahmen durch die Sächsische Polizei. Insbesondere setzte die Polizei am Samstag, den 03.06.2023 etwa 1.000 ehemalige Teilnehmer*innen einer Versammlung in einem sogenannten „Leipziger Kessel“ am Alexis-Schumann-Platz fest.

»Der RAV verurteilt das Vorgehen der Polizei aufs Schärfste. Rechtswidrig wurde den Betroffenen der Zugang zu vor Ort anwesenden Anwält*innen verweigert. Dass der sächsische Innenminister das fehlerhafte Vorgehen der Polizei beim „Leipziger Kessel“ deckt und Aufklärung verweigert, ist Ausdruck eines völlig verschobenen Diskurses, der autoritäre und rechte Strömungen weiter befeuert.«, so Rechtsanwalt Dr. Peer Stolle, Vorsitzender des RAV.

Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 6 III c der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie § 137 Abs. 1 der Strafprozessordnung garantieren allen Beschuldigten in Strafverfahren, sich in jeder Lage des Verfahrens von einem/einer Anwält*in verteidigen zu lassen. Mehreren im RAV organisierten Rechtsanwält*innen wurde trotz dieses grundlegenden Anspruchs der Betroffenen auf rechtlichen Beistand beim Leipziger Kessel der Kontakt mit sich darin befindenden Personen verweigert – und das, obwohl die Polizei bereits um 19:00 Uhr per Durchsage die Betroffenen als Beschuldigte in einem Strafverfahren über ihr Recht, sich anwaltlichen Beistand zu suchen, informierte.

So wurde schon zu Beginn dieses „Leipziger Kessels“ einer Kollegin das Gespräch oder auch nur die räumliche Annäherung an im Kessel befindliche Personen – notwendig zur ersten Kontaktaufnahme – verwehrt, obwohl zunächst Rufe nach Beistand zu vernehmen waren. Selbst eine Nachfrage bei den Betroffenen durch Polizeibeamt*innen, ob sie Kontakt mit der anwesenden Anwältin wünschten, wurde durch die Polizei ausgeschlossen.

Weitere Versuche von Kolleg*innen, den Betroffenen Beistand zu leisten, wurden über die folgenden Stunden hinweg trotz Insistierens der Anwält*innen durch die Polizei verhindert. Erst gegen Mitternacht durften einige wenige Kolleg*innen in den abgesperrten Bereich und dort mit einzelnen minderjährigen Betroffenen sprechen. Dass diese, sich bereits seit Stunden im Kessel befindenden Jugendlichen in der Menge der Personen vor Ort durch die Anwält*innen gesucht werden konnten, wurde durch die Polizei vorher ebenso abgelehnt, wie der Vorschlag, dass dann die Beamt*innen die betreffenden Minderjährigen ausfindig machen könnten. Eine „bevorzugte Abarbeitung von Minderjährigen“ war hier nicht zu erkennen.

Dazu erklärt Rechtsanwalt Mark Feilitzsch aus Dresden:

»Den etwa 1.000 Menschen im Leipziger Kessel wurde erklärt, dass sie Beschuldigte in einem Strafverfahren seien und das Recht hätten, einen Verteidiger hinzuzuziehen. Tatsächlich hat die Polizei jedoch genau das verhindert. Es ist zunehmend zu beobachten, dass im Zusammenhang mit politischen Protesten die anwaltliche Berufsausübung und damit der Zugang der Betroffenen zu rechtlichen Beistand behindert wird. Wenn – wie nun dieses Wochenende in Leipzig – viele Betroffene von den Nachmittagsstunden bis in den frühen Morgen ohne jeden Zugang zu anwaltlichem Beistand bleiben mussten, ist das mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren.«

Aber nicht nur den Rechtsanwält*innen wurde der Zugang zu den Betroffenen verwehrt. Auch den am Polizeikessel erschienenen und nachfragenden Eltern wurden ihre Kinder stundenlang vorenthalten. Selbst bei den anschließenden Maßnahmen der Belehrung der Minderjährigen, der Beschlagnahme von deren Telefonen, Durchsuchung und Identitätsfeststellung wurde den Eltern kein Anwesenheitsrecht eingeräumt. Die durch das stundenlange Festhalten eingeschüchterten und erschöpften Jugendlichen wurden aufgefordert, an polizeilichen Maßnahmen mitzuwirken und z.B. die PIN ihrer beschlagnahmten Telefone herauszugeben.

Dazu erklärt Rechtsanwältin Rita Belter aus Leipzig:

»Das Verhalten der Einsatzbeamt*innen verletzte in willkürlicher Weise die Rechte der Betroffenen und die der Sorgeberechtigten. Nun werden sich die Gerichte mit einer Vielzahl von Erlebnissen und der Feststellung deren Rechtswidrigkeit auseinandersetzen müssen.«

Eine weitere freiheitsentziehende Maßnahme wurde am 03.06.2023 vor dem Amtsgericht Leipzig vollzogen. Dort wurden ca. 20 – 25 Personen plötzlich von Polizeikräften zusammengedrängt und mit der Begründung, anlasslose Identitätsfeststellungen im Kontrollbereich vornehmen zu wollen, über zwei Stunden festgehalten. Die Identitätsfeststellung wurde – obwohl mehrfach angemahnt – erst 90 Minuten nach Kesselung begonnen. Zusätzlich erhielten alle dort Anwesenden einen grundlosen Platzverweis. Betroffen von diesen Maßnahmen war auch eine Rechtsanwältin, die unmittelbar nach der Haftvorführung ihres Mandanten bei dem Verlassen des Leipziger Amtsgerichts von den Polizeibeamt*innen mit in diesen Kessel gedrängt wurde und der ein Platzverweis nicht nur für das Gericht, sondern auch für den Ort ihrer Kanzlei ausgesprochen wurde.

Verschiedentliche Versuche, eine Begründung für die nicht nachvollziehbaren Maßnahmen zu erhalten, scheiterten. Widersprüche wurden nicht aufgenommen.

Auch mit diesem Vorfall werden sich die Gerichte beschäftigen müssen: Die betroffene Kollegin erhebt nun Klage zum Verwaltungsgericht gegen diesen schweren Eingriff in ihre Berufsausübungsfreiheit.

Ebenfalls wurde am darauf folgenden Sonntag jede Versammlung an der Gefangenensammelstelle an der Hauptwache der Polizei in Leipzig mit Verweis auf die Allgemeinverfügung (‚Versammlungsverbot‘) unterbunden. Als am Sonntag wartende Eltern, Angehörige und Freund*innen der (teilweise vorläufig) Festgenommenen an der Dimitroffstrasse auf die Entlassung der Festgenommenen aus dem „Leipziger Kessel“ warteten und versuchten, eine Versammlung anzumelden, wurden sie ebenfalls durch die Polizei gekesselt und Identitätsfeststellungsmaßnahmen unterzogen.

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Gesamtschau aller Indizien bei Beurteilung der Erfolgsaussichten der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB

Der Angeklagte wurde vom Landgericht wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit besonders schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Überdies wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass die Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist.

In der schriftlichen Urteilsbegründung bemängelt der zweite Senat die lückenhafte Erörterung bezüglich der hinreichend konkreten Aussicht auf einen Maßregelerfolg, die nach § 64 S. 2 StGB jedoch erforderlich ist.

Für eine Solche hinreichend konkrete Aussicht müssen sich in der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Verurteilten konkrete Anhaltspunkte für einen erfolgreichen Verlauf der Therapie finden lassen (BGH, Beschluss v. 20. März 2023 – 2 StR 479/21, Rn. 9; BGH, Beschluss v. 1. Oktober 2020 – 3 StR 325/20, juris, Rn. 4).

In der landgerichtlichen Entscheidung wurde die dissoziale Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten als negativer Faktor gewertet. Positiv sei jedoch seine Fähigkeit zur phasenweisen Abstinenz sowie das bisherige Fehlen von Therapieversuchen zu berücksichtigen.

Diese Indizien sind aus Sicht des BGH nicht ausreichend. Einbezogen werden soll überdies der soziale Empfangsraum des Angeklagten. Dieser umfasst beispielsweise folgende Aspekte: Familienstand, schulische und berufliche Ausbildung, das Vorhandensein einer Arbeitsstelle. Die Einbeziehung solcher Indizien muss im Rahmen einer Gesamtschau aller Indizien, die für und gegen eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sprechen, erfolgen.

Quelle: BGH, Beschluss v. 30. März 2023 – 2 StR 479/21

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